Meiner Mutter habe ich immer gut zugehört, wenn sie von Früher erzählte, von ihrer Kindheit und ihrem Leben als junge Frau. Ich hatte mich immer gewundert, dass meine Mutter zutiefst erschrak, wenn am Himmel ein Flugzeug zu hören war. Sie duckte sich und schaute angespannt und ängstlich nach oben. Irgendwann fing sie an zu erzählen.
Meine Mutter wohnte in Meuselwitz, einer Stadt umgeben von Braunkohlefabriken. In Zeitz gab es das Hydrierwerk und in Rositz das Teerverarbeitungswerk. In Kriegszeiten produzierten beide den Treibstoff für alles Kriegsgerät. Die ganze Gegend wurde deshalb im 2. Weltkrieg zum Ziel heftiger Luftangriffe. Zwei solcher Angriffe trafen die Stadt besonders stark. Beim ersten Angriff (November 1944) wurden 54 Tonnen Bomben abgeworfen, beim zweiten (Februar 1945) 140 Tonnen. Meuselwitz glich dann einer Geisterstadt.
Meine Mutter und mein Bruder, der damals noch nicht einmal richtig laufen konnte, schliefen in der Zeit nachts angezogen in ihren Betten. Wenn die Sirenen aufheulten, warf sich meine Mutter einen Rücksack mit dem Nötigsten auf den Rücken und vorn klammerte sich mein Bruder fest an sie, wie ein Äffchen. Sie hatten das geübt. Dann rannte meine Mutter durch den Ort zum nächsten Luftschutzbunker.


Uralte Fotos meines Vaters: Die Trümmer sind weggeräumt; der Aufbau begann.
In Leipzig Grünau, auf einem kleinen Platz am hinteren Ende der Parkallee zur Alten Salzstraße, stand eine Bronzeplastik. „Mutter mit Kind“, hatte der Bildhauer und Grafiker Theo Balden seine Plastik genannt. Balden behielt den Namen, der in einem gefälschten Pass stand, als er Nazideutschland verlassen musste. Nach dem Krieg kehrte er zurück und war einer der großen Künstler der Plastik in der DDR. Sozialistische Heldendarstellungen machte er nicht mit und seine Figuren entsprachen nicht der gewünschten Darstellungen in der Zeit des „sozialistischen Realismus“. Ihm stand deshalb öfter Ärger ins Haus, aber er blieb ehrlich und aufrecht. Immer glaubte er daran, dass es eine friedliche und gute Gesellschaft für alle geben kann. Ich glaube das übrigens auch.

Die Mutter seiner Plastik hält einen weiten Mantel über das schutzbedürftige Kind, welches ich in Gedanken mit der Zukunft gleich stelle. Nicht ängstlich, sondern ein bisschen trotzig schaut sie nach oben in den Himmel, von wo schon oft tödliches Unheil kam und in vielen Ländern der Erde gerade wieder kommt. Baldens Plastik, die mich immer so an meine Mutter erinnerte, fehlt seit einiger Zeit. Buntmetalldiebe hatten sie vom Sockel gestoßen, konnten sie aber nicht wegtragen. So sagte man.
Ich werde mich erkundigen beim Amt für Denkmalschutz, wo die Figur jetzt ist, und wann sie wieder in Grünau sein wird. Sie fehlt mir, weil sie mich an meine Mutter erinnert und daran, dass es viel zu schützen und zu bewahren gibt.
Hinweis:
Balden schuf zwei Originale. Die andere „Mutter mit Kind“ steht in Berlin Mitte, Klosterstraße, Grünanlage an der Ruine der Franziskanerklosterkirche.
Liebe Gudrun,
so viele tapfere Frauen in dieser so schrecklichen Zeit – damals wie heute, in so vielen Gebieten auf unserem Planeten.
Wie sehr ich verstehen kann, dass Dich diese Plastik an Deine Mutter erinnert! Sehr berührend, wie Du über ihr beschützendes Handeln schreibst, es kommt sehr real bei mir an. Fast sehe ich Bilder solcher schrecklicher Situationen ablaufen wie einen Film.
Hoffentlich kommt die Plastik zurück, das wünsche ich Dir!
Herzliche Grüße, Chris