Heute musste ich einfach raus. Das Wetter war schön und ich wollte meinen „Spatzenbaum“ am Vogelhäuschen vor dem Wohnzimmerfenster fotografieren. Also habe ich mir einen Schrittzähler geschnappt und bin los gedackelt, erst eine Runde durch die Herbstsonne und dann zurück in den Innenhof. Berauschend war die Anzahl der Schritte nicht, aber immerhin beachtlich. Und immer möchte ich einige Schritte dazu bekommen.
Das wäre doch gelacht, wenn da nicht noch was geht.
Ich bin froh, dass ich mit mir ins Gericht gegangen war.
Wißt ihr, da ist so vieles, was einen ständig einflüstert, dass doch alles gar nicht mehr gut ist. Da schämt man sich des langsamen Ganges, der Gehhilfen und der scheinbaren Unsicherheit bei allem, was man macht. Das muss verarbeitet werden, aber dann darf es auch kein Halten mehr geben.
Ich hatte die Kamera mitgenommen, weil ich sehen wollte, ob ich auch gleich noch einige Herbstimpressionen einfangen kann. Gehtraining mit Kamera und Schrittzähler – das wird wohl nun möglichst jeden Tag so sein.
In der Grünauer Allee ist es schön. Gut, die vielen Bänke und Sitzgelegenheiten sind verweist, aber viele Kinder spielen auf den Spielplätzen. Ab und zu ruft eine Mutti aus einem der Häuser. Und dann kommen altbekannte Sätze: „Nur noch eine Viertelstunde.“, „Nein, wir machen uns nicht schmutzig.“, „Es ist überhaupt nicht kalt.“
Das erinnert mich daran, wie das bei mir und meinen Kindern gewesen ist. Mir kommt es so vor, als sei es erst gestern gewesen.
Zurück wollte ich unbedingt durch meinen Innenhof. Ich sehe ihn ja fast nur von drinnen, vom Fenster aus.
Neben mir ging plötzlich ein Geschrei los. Drei Raben zankten sich verbissen. Sie waren zu schnell für mich mit der Kamera, aber ihnen zuzusehen war schön. Ich habe ihnen aber noch gesagt, dass sie zum Spatzenbaum kommen sollen. Die Spatzen krümeln bestimmt jede Menge aus dem Vogelhaus hinunter.
Das ist er, der Spatzenbaum. Wenn die Spatzenbande einfällt am Futterhaus, dann wackelt der Baum, als würde ein Bär dran hochklettern. Kaum zu glauben, dass die Vögel den so in Schwingung bringen können.
Auch heute wieder wollte ich wieder von Drinnen die schönen roten Blätter fotografieren. Die Spatzen, die so viel Spaß in ihrem Vogelbad auf dem Fensterbrett hatten und das Fenster bis oben hin zupütscherten, verhinderten das wieder erfolgreich.
Es war ein schöner Spaziergang durch’s Viertel.
Schon an der Rampe zur Wohnung schnippte ich an einem Mann vorbei und schnitt auch noch seinen Weg. Auch er war mit Gehhilfe unterwegs. Als ich mich entschuldigte, meinte er: „Ist doch nicht schlimm. Ich habe doch Zeit.“ Ja, ich auch. Und deshalb werde ich morgen wieder raus gehen. Und den Schrittzähler nehme ich natürlich mit.
Da gibt es doch gar nix zu schämen. Martin läuft auch oft extrem langsam, muss öfter mal stehen bleiben und Pause machen. Mir fällt es oft schwer, nicht vor weg zu laufen, weil ich schlecht so langsam laufen kann. Aber wir haben uns inzwischen einigermaßen eingespielt. Ich warte dann auf ihn oder bemühe mich, auch langsam zu gehen. Manchmal lässt er sich allerdings auch von mir „ziehen“ und das bekommt ihm dann nicht. Er muss bei seinem Tempo bleiben und manches geht eben nicht mehr.
Oh ja, das mit dem ziehen lassen, kenne ich. Zuerst war es die Straßenbahn, die ich eben lieber verpassen sollte und dann waren es Begleitpersonen, bei denen ich stur wie ein Esel meinen Stiefel machen muss. Alles andere ist nicht gut. Ich glaube, man muss das regelrecht trainieren.
Und ich habe früher immer geunkt, dass ich Rollatorwettrennen machen will, wenn ich so ein Ding mal nötig habe. Nee, das ist gar nicht gut.
Wettrennen geht doch trotzdem…..
Allerdings eher mit dem Ziel, wer am langsamsten ist 😎
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In der Tat ist dieses mitgezogen werden das grösste Problem dabei, weil es mir manchmal vor wie Hase und Igel. Egal wie ich mich anstrenge, ich bin immer hinten dran… selbst wen Birte auf mich wartet.
Dieses auf mich warten setzt mich unter Druck. Wenn Jan sagt, dass er mal zu der Pfütze läuft, weil er fotogrsfieren will, dann stört mich das nicht. Und so flitzt er im Zick-Zack den Weg lang.
Im Nachbarhaus läuft eine Frau immer mit ihrem Therapeuten. Er läuft grundsätzlich hinter ihr, denn sie soll ihren Gang finden, nicht seinen. Im normalem Leben geht das so nicht. Wir brauchen einfach ein dickes Fell, Gelassenheit und unser eigenes Tempo. Ich muss lernen, den Herrn E. eben warten zu lassen. Die Straßenbahn fahrt auch nicht schneller, bloß weil ich da stehe.
Und die Bewegung an der frischen Luft tut so gut. Da muss man einfach raus.
Ich hatte auch mal einen Schrittzähler. Wollte ich bei der Arbeit benutzen, weiß gar nicht wo der abgeblieben ist.
Wenn das Wetter am Wochenende gut ist drehen wir auch gerne ne Runde.
Wir entdecken immer neue schöne Ecken.
Und wie Frau Momo schon schrieb, da gibt es nichts zu schämen.
LG nach Leipzig
Morgen holt mich meine Freundin ab. Wir wollen zu einem kleinen See, gleich bei ihrem Stadtteil. Du hast Recht, liebe Marion, es gibt immer etwas zu entdecken, gleich in der Nähe. Wir wollen das schöne Herbstwetter nochmal nutzen.
Ihr habt beide Recht und ich danke euch, dass ihr es nochmal gesagt habt. Ich werde die Kamera mitnehmen.
Herzliche Grüße an dich.
Fein, dass du dich aufgemacht hast. Wegen einer Gehhilfe muss mensch sich nicht schämen. Hilfe annehmen ist völlig in Ordnung. Alles Liebe KArin
Ich musste mich erst daran gewöhnen. Es ist mir nicht leicht gefallen, auch weil es so heftig kam. Ich hatte geglaubt, etwas mehr Zeit zu haben.
Du hast Recht, mit dem Hilfe annehmen. Es ging heute schon besser.
Liebe Grüße
Sage mal, was ist denn das für ein Schrittzähler? Sicher nicht eine App im Handy? Sicher auch kein Fitnessarmband, so wie ich es immer umhabe. Klemmst du dir was ans Bein? – Ich finde es toll, dass du versuchst, immer ein paar Schritte mehr zu laufen, bevor du matt in die Kissen sinkst oder vor dem Spinnrad sitzt.
Weißt du, was ich gut finde? Dass du die Hilfen zum Gehen jetzt so bezeichnest als das, was sie sind. Hat meine Intervention ja was gebracht.
Noch einmal sage ich Gute Nacht!
Es gibt Situationen, in die muss man sich erst einfinden, liebe Gudrun. Situationen, die man für sich selbst, im Inneren, klären muss.
Mir geht es manchmal so, wenn ich von etwas überrollt werde, mit dem ich mich überfordert fühle, dass ich erst herumzetere und manchmal sogar zur Dramaqueen mutiere (muss ich leider zugeben und ist mir furchtbar peinlich). Dahinter steckt aber einfach Angst und manchmal sogar Panik.
Ich brauche dann Zeit, die Gedanken zu sortieren, und für mich einen Weg zu finden, wie ich damit umgehen kann.
Es ist nicht leicht, wenn es nicht mehr so geht, wie sonst und wie man es gerne möchte. Ein wenig kenne ich mich damit leider auch aus, auch wenn es für andere nicht so offentsichtlich ist.
Es freut mich, so viel Optimismus aus deinen Zeilen herauslesen zu können. Wirklich toll.
Liebe Grüße,
Martina